Die Champagnerdynastie

Roederer

Louis Roederer ist ein Unikat in der Champagne: In siebter Generation führt Fréderic Rouzaud das Champagnerhaus, das wie kein anderes zugleich glamourös und bodenständig ist. Einst Favorit der Zaren, heute Vorreiter der Biodynamie – Zeit, dem Mythos einmal auf den Grund zu gehen.

Der Tag, an dem Emmanuel Macron die erste Runde der Präsidentschaftswahlen gewann, war auch ein guter Tag für Frédéric Rouzaud. Am Wahlabend feierte der Sieger in der noblen Pariser Brasserie „La Rotonde“ seinen Erfolg, Rouzaud sah die Bilder im Fernsehen – und stutzte: Sieh an, da stand doch eine Flasche Roederer auf dem Tisch! Noch ein paar Monate später blitzen seine Augen vor Freude: „Ich werde dem Präsidenten bald einen Brief schreiben und ihm eine Flasche schicken.“ Frédéric Rouzaud kann sich solche Gesten leisten, schließlich gehört ihm das Champagnerhaus, in siebter Generation steht er an der Spitze, seit 20 Jahren führt er die Geschäfte.

Prominente Kunden sind ihm keinewegs fremd: François Mitterrand und Bill Clinton, die Queen und Madonna zählen dazu, und Rapper wie Jay Z machten damit Schlagzeilen, dass sie den edlen Jahrgangs-Champagner Roederer „Cristal“ gern mal gegen den Durst tranken. Überhaupt „Cristal“: Er zählt zu den Giganten in der Champagnerwelt, golden schimmernd, teuer, einst Favorit der Zaren. Genießer heben die Augenbrauen, wenn sein Name fällt, er gilt als Mythos und animiert die internationale Weingemeinde immer wieder zu einem kollektiven Kniefall, ja, mancher Experte feierte die 2002er Magnum sogar als besten Jahrgangswein der Welt.

Es gibt also genug Gründe, diesem Mythos einmal auf den Grund zu gehen – vor allem jetzt zum Jahreswechsel, wenn es wirklich darauf ankommt, was im Glas ist. Also haben wir uns mit Frédéric Rouzaud verabredet, treffen ihn im einstigen Wohn- und heutigen Geschäftshaus der Familie in Reims zum Lunch. Verspielter Historismus, Gemälde, Kamine, kostbare Möbel, Familienporträts, dazwischen moderne Kunst. Längst lebt die Familie in Paris, nur wenn es abends allzu spät wird mit Kunden oder Journalisten, übernachtet der Hausherr hier. Zum Weingut mit den riesigen Kellern voller Flaschen, Eichenholzfässer und Stahltanks sind es auch zu Fuß nur ein paar Minuten, es steht heute kurioserweise mitten in einem Wohngebiet. „Auf dem Land wäre die Logistik natürlich viel einfacher“, sagt Rouzaud, „aber Champagner ist Lifestyle, ein urbanes Getränk, wir wollen in der Mitte der Gesellschaft sein.“

Er selbst zieht das diskrete Leben in der Hauptstadt vor und ist daher gar nicht so traurig, dass der Name Roederer vor zwei Generationen verschwunden ist, als seine Großmutter einen Monsieur Rouzaud heiratete. Aber der Familiensinn ist ungebrochen und reicht weit bis zu den Anfängen im 18. Jahrhundert zurück. Dass Roederer heute so glänzend dasteht, ist nämlich auch den Vorfahren zu verdanken. „Ja, es ist ein außergewöhnliches Erbe“, sagt der 50-Jährige leise, „und eine große Verantwortung für mich, es eines Tages noch glänzender weiterzugeben.“

Bereit dafür wären zum Beispiel seine drei Kinder, alle noch nicht einmal volljährig. Wenn er eine Flasche entkorkt, lässt er sie aber schmecken und schnuppern, erzählt ihnen dazu Geschichten. „Das fasziniert sie“, freut sich der stolze Vater, „für sie haben Wein und Champagner Magie, einen Heiligenschein.“ Kein Wunder, bei dieser Vergangenheit. 1776 gründeten die Kaufleute Dubois und Schreider das Champagnerhaus. Schreider vererbte es 1833 seinem Neffen Louis Roederer.

Schlau und eigensinnig, wie der gebürtige Elsässer war, verpasste er dem Haus seinen Namen und kaufte wider alle guten Ratschläge Rebflächen an der Marne, und zwar nur die besten. Das galt als verrückt, denn Land war teuer, die Bewirtschaftung aufwendig, Trauben hingegen waren billig. Bis heute gibt es eine Zweiteilung in der Region – mit langer Tradition und einzigartig in der Weinwelt: Viele Winzer bauen Trauben an, um sie komplett an große Champagnerhäuser zu verkaufen, die wiederum in ihren Kellern daraus den begehrten Schaumwein machen.

Die Namen der Macher verschwinden oft hinter den berühmten Markennamen. Als Louis Roederer 1870 starb, hinterließ er stattliche 100 Hektar und einen Umsatz von 2,4 Millionen Flaschen pro Jahr. Heute ist der Besitz auf 240 Hektar, der Umsatz auf 3,5 Millionen Flaschen angewachsen. Roederer darf sich dabei fast Selbstversorger nennen: 70 Prozent der Trauben stammen aus eigenen Grand-Cru- und Premier-Cru-Lagen – einmalig in der Region. „Wir sehen uns als Winzer“, sagt Rouzaud, der ab und zu noch einen Hektar dazukauft. Kostenpunkt: rund zwei Millionen Euro – was gar nicht so teuer ist, wenn man weiß, dass für einen Hektar in Burgund 200 Millionen fällig werden.

Schneller Gewinn ist damit aber nicht zu machen. Bevor eine neue Fläche genutzt wird, lässt man sie bei Roederer ein paar Jahre ruhen. Pflanzt man neue Reben für den „Cristal“, dauert es gut 20 Jahre, bis – eventuell – ein Wein daraus entsteht. „Unser Geschäft ist schon seltsam“, sinniert Frédéric Rouzaud, „wir warten immer: auf die Ernte, auf gutes Wetter, auf die Reifung in Tanks und Fässern, auf die Gärung in den Flaschen. Die Gefahr ist, dass man dabei einschläft. Gleichzeitig müssen wir aber immer in Bewegung bleiben, um das Gut voranzubringen.

Ziemlich paradox, das Ganze.“Aktionäre oder Investoren, fixiert auf Quartalsergebnisse, würden da verzweifeln. Darum ist Frédéric Rouzaud auch die Unabhängigkeit als Familienunternehmen wichtig; für die Finanzen ist sein Cousin zuständig. „Man braucht große Liebe zum Produkt“, sagt Rouzaud, „eine Frage, die uns gerade sehr beschäftigt, lautet: Wie wird Roederer in 15 bis 20 Jahren dastehen?“ Auch den Luxus einer Vorratskammer leistet sich Roederer als einziges Champagnerhaus – 700 000 Liter Reserveweine lagern jahrelang in 15 Fässern, um die Cuvées aufzufüllen, die Qualität langfristig zu sichern. Totes Kapital, würde ein Unternehmensberater nörgeln.

Das Schöne aber an dem Geschäft ist: Der lange Atem wird fürstlich belohnt. Etwa jetzt, wenn zum Hauptgang der berühmte 2002er „Cristal“ eingeschenkt wird. Fast beiläufig probiert Frédéric Rouzaud den ersten Schluck, hält inne, als prüfe er, ob der Geschmack noch so gut ist wie erwartet. Kurzes Nicken, dann wendet er sich wieder dem Essen zu und fragt: „Schmeckt er Ihnen?“

Das ist keine Ironie. Viele Leute seien enttäuscht, wenn sie den „Cristal“ das erste Mal auf der Zunge hätten, viele erwarteten ein Kraftpaket, einen donnernden Auftritt, „dabei liegt sein Geheimnis in der Finesse, der Eleganz“. Stimmt genau. Im Gegensatz zu vielen anderen Champagnern, die am Gaumen ganz schnell da, aber auch schnell wieder weg sind, entfaltet sich das Potenzial des ersten Schlucks erst im Nachhall, ja, steigert sich wie ein Crescendo. Es fällt nicht schwer, in Begeisterung zu geraten, wie fein und seidig er gewebt ist, wie cremig und nobel mit zarten Anklängen an Vanille, wie weinig, frisch und komplex er daherkommt. Eine Persönlichkeit, die man näher kennenlernen, mit der man mal allein einen ganzen Abend verbringen möchte.

„Cristal“, das Paradestück des Hauses, wird dabei seit 1974 flankiert von seiner raren Schwester „Cristal Rosé“. Wer das Glück hat, eine Flasche davon zu ergattern, spürt, wie der erste Schluck wie eine Blüte am Gaumen aufgeht. Die Hausmarke ist der Brut Premier, die Visitenkarte, weithin geschätzt als Aperitif. Neu im Team der insgesamt sieben glorreichen Champagner: der knochentrockene Brut nature ganz ohne schmeichelnde Dosage, ein Vintage und Joint-Venture mit dem Designer und Schaumwein-Liebhaber Philippe Starck.

Generell mag es Frédéric Rouzaud nicht so süß, eine seiner ersten Amtshandlungen war es, die Dosagen herunterzufahren. Möchte man mehr wissen, etwa über Zuckerwerte und Hefekulturen, winkt der studierte Ökonom ab: „Fragen Sie Jean-Baptiste!“ Machen wir.

Am nächsten Morgen treffen wir den Kellermeister Jean-Baptiste Lécaillon in den Weinbergen. Seit 1989 herrscht er über alle Rebflächen und Keller des Roederer-Imperiums, ein Meister der Stilistik, von Mitarbeitern kurz „Genie“ genannt. Es ist der erste Tag der Lese Anfang September, die Nacht war unruhig, ständig hat Lécaillon auf Wetter-Apps geschaut und telefoniert. Zum Glück stimmt heute alles: frischer Wind, der durch die Blätter raschelt, Sonne, aber zum Glück keine Hitze und vor allem kein Regen. Zufrieden blickt Lécaillon auf die wertvollste Pinot-noir-Parzelle der Champagne, La Goutte d’Or (Goldtropfen) nahe dem Dorf Aÿ, das Herz des „Cristal“; 14 Hektar davon gehören Roederer. Da rumpelt ein Traktor vorbei. „Ah, Moët & Chandon“, sagt der Kellermeister und grüßt freundlich.

Auch die Mitbewerber bringen sich in Stellung. Lécaillon probiert eine der Premium-Trauben: „Ich habe es besser als meine Vorgänger, durch den Klimawandel reifen sie derzeit perfekt“. Der einzigartige steinige Kreideboden der Champagne, die Top-Lagen, die frischen Winde vom Atlantik, die Wärme vom Kontinent – das sind schon ideale Bedingungen, um einen Star wie „Cristal“ auf die Welt zu bringen. Nur in allerbesten Jahren wird er gekeltert, von zwei Profis per Hand gerüttelt und darf dann sechs bis sieben Jahre reifen. Wie es sich eben für den Klassenbesten gehört.

Das Wichtigste aber hat Roederer in den vergangenen Jahren fast im Geheimen vollzogen: Seit 2000 werden Hektar für Hektar umgestellt, zuerst auf bio, dann auf biodynamisch – damit ist Roederer Vorreiter in der Champagne. Man glaubt es kaum: So ein renommiertes Haus, das oft mit Hermès verglichen wird, schwört auf Präparate wie Schachtelhalm und Kamille aus den Lehrbüchern Rudolf Steiners. Pferde beackern 30 Hektar, Kuhhörner werden vergraben, Mondkalender studiert. Der eigene Kompost ist heilig, und an den Rebflächen stehen Bienenstöcke. „Ehrlich gesagt, glaube ich bis heute nicht so recht daran“, sagt Lécaillon.

Aber die Ergebnisse gäben ihm recht: „Unsere Champagner sind tiefgründer, präziser, differenzierter geworden, sie haben mehr Frucht und mehr Mineralität.“ Eine Marketing-Offensive wurde daraus allerdings nicht gemacht, auf den Etiketten steht nicht der kleinste Hinweis. Warum? Weil Roederer nicht in der Öko-Ecke stehen will, bio soll kein Kaufargument sein. „Meine Religion ist Qualität, nicht Ideologie“, macht der Kellermeister klar. Derzeit sind 100 Hektar biodynamisch, das Ziel ist, irgendwann alle Flächen alternativ zu bewirtschaften. Aber was heißt eigentlich alternativ? „Wir arbeiten so, wie es unsere Großväter getan haben“, meint Lécaillon, „wir kehren zurück zur Normalität. Eines Tages werden wir die Phase der Chemie als einen kurzen Irrweg in der Geschichte des Weinbaus betrachten.“

Lécaillon ist der strahlende Charismatiker, Rouzaud eher der stille Macher. Aber wenn beide vom Weinbau sprechen, fallen immer dieselben Worte; Worte, die man auch aus Therapiesitzungen kennt: beobachten, zuhören, die Reben begleiten, nicht stressen, beruhigen und der Pflanze helfen. Lautes Marketing ist ihnen suspekt. „Ich brauche auch kein Marketing“, lacht der Kellermeister, „ich habe ja meinen Zaren“ – womit wir beim Geburtshelfer des „Cristal“ angekommen sind.

Noch heute steht die Büste Zar Alexanders II. auf einer Mar-morsäule im Eingang des Guts. Er verliebte sich im 19. Jahrhundert in Roederers Champagner und bestellte eine Cuvée ganz nach seinem Geschmack – mit zwei Bedingungen, die heute noch Markenzeichen sind: Der Monarch fühlte sich stets in Lebensgefahr und wünschte transparentes Kristallglas, um sicher zu sein, dass kein Gift beigemischt wurde, und der Flaschenboden durfte keinen Eingriff haben, damit kein Platz für eine Handgranate war. Gegen den Druck wird der flache Boden verstärkt, und vor schädlichem Licht schützt man den Wein mit einer Goldfolie. Dank den Romanows brachte Roederer also die erste Prestige-Cuvée der Champagne auf den Markt. Ein Drittel aller Flaschen ging damals nach Russland, das Geschäft florierte; auch Kaiser Wilhelm I. und Bismarck prosteten sich mit dem Champagner zu. Doch nach der Oktoberrevolution gab es keinen russischen Markt mehr, dazu kam der Erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, die Prohibition, zuvor schon die Reblauskatastrophe – all dies führte Roederer fast in den Ruin.

Doch wie so oft, wenn die Lage hoffnungslos scheint, übernahm eine Frau das Zepter: Camille Olry-Roederer war die starke „Witwe Roederer“, das Pendant zur Veuve Clicquot. „Ohne sie wären wir tot, das ist sicher“, sagt Frédéric Rouzaud. Ab 1932 kurbelte sie nicht nur Produktion und Qualität wieder an, mit ihrem eleganten Look im Stil eines Filmstars war sie Teil der High Society, auf Pferderennen mit ihrem Traber Jamin dabei, scharte Künstler im Pariser „Café de Flore“ um sich, bereiste die USA, lud zu legendären Soiréen ein – und natürlich floss dabei immer Champagner. Sie wusste: Was den Künstlern schmeckt, lockt auch das Business. Temperamentvoll war sie und auch autoritär, erinnert sich ihr Urenkel Frédéric Rouzaud, die Familie zitterte vor ihr. „Einmal hat mein Vater sie zwei Minuten zu spät am Bahnhof abgeholt“, erzählt er mit Schrecken im Blick, „mon Dieu, hat sie ihn beschimpft!“ Dennoch trat Jean-Claude Rouzaud 1975 ihre Nachfolge an – als erster ausgebildeter Önologe an der Spitze des Unternehmens. Das aber ist Vergangenheit.

Wir fahren weiter zum Presshaus, mitten in die aufgekratzte Stimmung des ersten Erntetags. Überall stehen Bottiche voll frisch gepflückter Trauben aus 410 Parzellen. 600 Erntehelfer sind im Einsatz. Seit Jahren betreuen die gleichen Mitarbeiter dieselben Rebzeilen, auch das ist typisch Roederer. So sehen sie, ob ein Rebstock plötzlich krummer wächst als sonst, und schlagen Alarm.

Kann man schon sagen, wie der Jahrgang wird? Reicht es für einen „Cristal“? „Schwer zu sagen“, meint Jean-Baptiste Lécaillon, „im Januar haben wir die erste Probe, dann wissen wir mehr.“ Das ist doch mindestens ein guter Grund, mit Spannung das neue Jahr zu erwarten!